Jahresuhr | Jahresuhren
Die Jahresuhr, ihre und ihres Erfinders unbekannte Geschichte
Von Gerd-Harald Ludendorff, veröffentlicht in ‘Alte Uhren, Callwey München 1/82’
Bald nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 besuchte Anton Harder auf einer seinen vielen Reisen Frankreich. An einem warmen Spätsommertagwanderte er auf die Maashöhen
gegenüber von Sedan und sann im Grase ruhend den Ereignissen deutscher Geschichte nach, die ihren Ausgang von der im Abendsonnenschein liegenden Stadt genommen hatten. Sein forschendes Auge erspähte indes auch bald einen stärkeren Grashalm, der aus dem Zündkapselloch eines Schrapnellbodens zum Licht emporwuchs. Er zog an dem Halm und damit auch den vom Wurzelstock gehaltenen Granatboden in die Höhe, der sich um den Halm in langsamen Schwingungen zu drehen begann. Sein wacher Geist, in feinmechanischen Dingen aus Liebhaberei schon lange geschult, erfaßte schnell, daß die anscheinend antriebslose Bewegung zwar nicht zum damals erhofften Perpetuum mobile, aber für manch andere Anwendung nützlich sein konnte. Nach Schlesien auf sein Gut Ransen bei Steinau/Oder heimgekehrt, begann die Auswertung der Zufallsentdeckung.
Johann Anton Harder, geb. 16.09.1811 in St. Petersburg, kam aus einer deutschen Familie, die es zu Zeiten Katharinas II. in Reval und später in St. Petersburg als Kaufleute, Ärzte und Gelehrte zu Ehren und Wohlstand gebracht hatte. Auf Wunsch seines Mecklenburger Schwiegervaters zum Landwirt geworden, widmete er sich jedoch allerlei technischen Entwicklungen. Während einem Neffen das Gut anvertraut war, richtete er sich in einem Flügel des großen Gutshauses eine Uhrmacher- (heute Feinmechaniker-) Werkstatt ein, in der ein gelernter Uhrmacher seinen meist landwirtschaftlichen Erfindungen im Modell Gestalt geben mußte. Heimgekehrt führten seine längeren Versuche und Untersuchungen – als Vorstufe baute er u. a. ein minutenschwingendes Torsionspendel mit zwölfstündigem Lauf, dessen einziges Gangrad durch eine Schrotkugel an langem Faden auf einer Welle angetrieben wurde – zur Entwicklung der 400-Tage-Uhr, deren Aufbau und Erscheinungsbild heute gegen damals keine wesentlichen Änderungen zeigt. Dabei erprobte er verschiedene Hemmungen, um bei den ersten Uhren aus seiner Werkstatt die Spindelhemmung als am besten geeignet anzuwenden.
In der zweiten Hälfte der 70er Jahre trat Anton Harder dem Schutz und der Auswertung seiner Erfindung näher, wobei er auf fachkundige Unterstützung angewiesen war. Was oder wer ihn dazu mit dem Uhrmacher Lorenz Jehlin in Säckingen zusammengeführt hat, ist nicht mehr bekannt. Im Hinblick auf die vom künftigen Hersteller jehlin zu tragenden jährlichen Patentgebühren meldeten die beiden 1877 Harders Erfindung mit geänderter Blattfederaufhängung gemeinsam zum Patent an. Das Patent wurde unter der Nr. 2437 am 16.09.1877 auf den Namen Jehlin erteilt, wobei das im ersten Jahr bestehende Kaiserliche Patentamt in Berlin das richtig beschriebene Torsionspendel als Rotationspendel bezeichnete. Doch dann brach die für A. Harder aussichtsreich begonnende Entwicklung ab. Lorenz Jehlin erkrankte und starb am 30. Nov. 1879. Sein Vater und Erbe, der Bezirksarzt Lorenz Jehlin, zedierte seine Rechte an dem Patent an Anton Harder, der so unbeabsichtigt rechtmäßiger Alleininhaber des Patents mit allen Weiterentwicklungen wurde.
Anton Harder nahm zunächst Verbindung mit der ihm näher gelegenen Firma A. Willmann & Co. in Freiburg i. Schl. auf, die seinem Muster gemäß etwa 300 Jahresuhren mit Spindel-, später mit Graham- und Zylinderhemmung lieferte; doch die Reklamationen häuften sich. Willmann & Co. waren nicht in der Lage, die Mängel aus nachlassender Federkraft, Empfindlichkeit gegen Erschütterung, fehlendem Temperaturausgleich und Justierschwierigkeiten zu beheben und lehnten 1881 die weitere Herstellung ab. Als Nachfolger gewann er vorübergehend die gutbekannte Fa. Gustav Becker am gleichen Orte. Diese Uhren trugen auf dem Zifferblatt in blauer Schrift die Bezeichnung: Harder Ransen bei Steinau A/O D. R. Patent N0 2437. Als auch der zweite Hersteller 300 bis 400 Uhren gefertigt hatte und der Absatz der bekannten Mängel wegen zu erliegen drohte, verlor Anton Harder die Teilnahme an seiner Erfindung und gab auch die Uhrmacherwerkstatt auf.
Zwar waren noch vom k. u. k. Österreich-Ungarischen Patentamt Uhrenpatente auf seinem Namen eingetragen worden und in den USA trägt die Patentschrift seiner »Torsion Pendulum Clock« die Nr. 269052 vom 12. Dez. 1882, aber es fehlte Anton Harder wohl an Beharrlichkeit, weniger an Geld als an Fachkenntnissen, um der mit einer Neuentwicklung verbundenen Anfangsschwierigkeiten Herr zu werden. Daß die Erfindung dennoch weltweite Verbreitung fand, ist anderen Helfern zu danken. Es setzte eine lebhafte Erfindertätigkeit in vielen Ländern ein mit der Folge einer überraschenden Vielfalt an patentierten Konstruktionen. Nach Willmanns und Beckers Verzicht und auf der Suche nach einer uhrentechnisch erfahrenen Werkstätte erhielt dann Ende 1881 August Schatz, Betriebsleiter der späteren Jahresuhrenfabrik in Triberg von Anton Harder das Muster seiner Jahresuhr und lieferte am 17. März 1882 die ersten 12 Stück noch ohne Sockel, Säulen und Glas ab. Weitere größere Stückzahlen folgten bald, doch weder konnte noch wollte er den Vertrieb allein in die Hand nehmen und ausweiten. Im Januar 1883 bot sich die Gelegenheit, das Patent mit allen Verpflichtungen durch gerichtlich und notariell beglaubigte Erklärung an den Kaufmann Ferdinand Arnold Ludwig de Gruyter in Amsterdam »ohne irgendeinen Vorteil« abzutreten. Danach lieferte A. Schatz unter Einstellung seiner Regulatorenfertigung ausschließlich Jahresuhren an de Gruyter, der sogar für zehn Jahre stiller Teilhaber wurde, als Ende 1884 der Verkauf von Jahresuhren stark nachließ, dafür aber die Nachfrage nach sogenannten »Amerikaneruhren«, d. h. mit Schlagwerk, aufkam und zusätzliche Werkzeugmaschinen beschafft werden mußten. A. Harders Patent mit der Laufzeit bis zum 26. Juni 1891 erlosch vorzeitig wegen Nichtzahlung der jährlichen Gebühren für das zwölfte Jahr durch de Gruyter 1887. Der freizügigen Herstellung von Jahresuhren war damit keineswegs Tür und Tor geöffnet. Der Markt hatte die anfänglichen Konstruktionsmängel noch nicht vergessen und wurde immer schwächer.
Erst Ende der 90er Jahre sorgte die Firma Andreas Huber für einen neuen Anstoß und griff zunächst in Verbindung mit der Fa. Schatz & Wintermantel unter Abnahmegewähr einer bestimmten Stückzahl den Vertrieb der bis dahin fast nicht mehr beachteten Jahresuhr – ob zufällig oder gesucht, weiß die Chronik aus dem Jahre 1931 nicht zu sagen – mit durchschlagendem Erfolg im eigenen Ladengeschäft in München auf. Jedem anderen Fachmann wäre die Jahresuhr durch die Schwarzwälder Kataloge s. Z. genauso zugänglich gewesen. Durch Patente auf Bestandteile des Werkes jetzt mit Kompensations-Drehpendel leistete die Jahresuhr alsbald an genauen Gang dasselbe wie jede andere Zimmeruhr in gleicher Preislage. Wie früher fand das Publikum viel Freude an der Uhr mit dem Drehpendel. Der Absatz wuchs schnell und stellte dank reich illustrierter Kataloge den Hauptanteil im rasch zunehmenden Exportgeschäft dar. Mit viel Liebe wurde die bis heute unveränderte Grundkonstruktion nach eigenen Entwürfen im Empire-, Jugendstil u. a. mit Hilfe von Edelhölzern, Bronze, Onyx, Marmor und Kristall verkleidet. Die Jahresuhr als Handelsware von anerkannten Wert fand nun auch Interesse bei anderen Uhrenherstellern. So auch bei der Lenzkircher Uhrenfabrik (noch mit Patent Jehlin) 1889 Wender & Metzger in Frankfurt/Main und 1890 Wilhelm Köhler in Fürth, dann 1904 bei Gustav Becker in Freiburg i. Schl., 1904 bei der Badischen Uhrenfabrik in Furtwangen, bei Würth in Schwenningen (später Ideal in Villingen), 1906 dei Phil. Hauck in München, bei den Gebr. Junghans in Schramberg und auch bei der Fa. Kienzle. 1926 wurden Jahresuhren von sechs führenden Herstellern geliefert.
Anton Harder erlebte den Durchbruch seiner Erfindung im Welthandel Ende letzten Jahrhunderts nicht. Unbeachtet starb er am 23.06.1888 und wurde in Ransen begraben. Um 1880 fragte Anton Harder bei Kaiser Wilhelm I. und Bismarck an, ob sie geneigt seien, eine Jahresuhr als Geschenk entgegen zunehmen. Im Eckzimmer des Berliner Stadtschlosses Unter den Linden mit dem historischen Fenster hat der Verfasser 1938 die Jahresuhr auf dem Schreibsekretär des Kaisers noch vorgefunden.